Es ist schon beeindruckend, wer sich alles an einer Care Revolution beteiligen will. „Her mit dem guten Leben – für alle weltweit!“ lautet das Motto einer dreitägigen Aktionskonferenz, zu der die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin geladen hat. Statt der geschätzten 20 haben rund 60 verschiedene Initiativen den Aufruf unterstützt, statt der erwarteten 150 Menschen haben sich weit über 400 angemeldet. Die meisten sind zwischen 20 und 70 Jahre alt, drei Viertel von ihnen sind Frauen. So unterschiedlich ihre Hintergründe, ihre Herkunft, ihre Arbeit sein mögen, eines haben sie gemeinsam: nicht viel Zeit.

Eine Gruppe konnte gar nicht kommen, obwohl sie den „größten Pflegedienst der Nation“ stellt, wie eine Sprecherin der Initiative „Armut durch Pflege“ in einem zugeschalteten Video erzählt. Sie pflegt zu Hause ihren Mann, immer an der Grenze zur Armut. In den Kliniken sieht es auch nicht besser aus, erzählt ein Beschäftigter der Berliner Charité. Immer wieder Personalkürzungen – bei immer mehr Pflegefällen.

Die Idee der Care Revolution stammt aus der feministischen Ökonomie. Unter den Begriff „Care Work“ fallen all die Tätigkeiten, die gemeinhin als „typische Frauenarbeit“ betrachtet werden: Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege. Die ganze Reproduktionsarbeit eben, die gar nicht oder nur schlecht entlohnt wird und allzuoft unsichtbar bleibt, übersehen wird. Bildung und Erziehung, Gesundheit und Pflege, Ernährung und Wohnraum: „Ein polit-ökonomisches System muss in der Lage sein, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn dies wie derzeit nicht geschieht, muss es erneuert beziehungsweise transformiert werden“, heißt es im Berliner Aufruf.

24-Stunden-Dienst ist normal

Mit Wohlfühlmusik unterlegt flimmert ein Film über die Leinwand im Saal. Er zeigt, wie Kinder in Hamburg einen Tag lang im Rollstuhl sitzen, um für das Leben mit Behinderung sensibilisiert zu werden. Dann stellt sich die „Interventionistische Linke“ vor: „Ihr kennt uns vielleicht vom Castorschottern oder von Dresden Nazifrei.“ Gastgeberin Barbara Fried von der Luxemburg-Stiftung versucht, eine bündnisfähige Klammer, einen gemeinsamen Nenner zu formulieren, für all diejenigen, die sich hier versammelt haben: „Wir sind alle an unterschiedlichen Ecken desselben Problems tätig.“ Allein, es fehle „an Kraft, Ressourcen, Zeit, Geld“, um für sich und gleichzeitig auch für andere zu sorgen.

Bożena Domańska erzählt ihre Geschichte gleich zwei Mal an diesem Wochenende. Vor zwanzig Jahren kam sie aus Polen nach Deutschland, um hier als Haushaltsangestellte zu arbeiten. Dann zog sie weiter in die Schweiz. Dort arbeitete sie als 24-Stunden-Kraft, bekam von ihrem Pflegedienst dafür sechs Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche bezahlt. Alles in allem hatte sie zwei Stunden pro Tag frei, außerdem einen Nachmittag in der Woche.

Als sie statt einer Person zwei Menschen pflegen sollte, brach sie zusammen. Und als sie erfuhr, dass ihr Arbeitgeber 12.000 Franken im Monat abrechnete, sie aber nur 3.000 davon erhielt, führte sie die erste Klage einer Care-Migrantin in der Schweiz – und gewann. Applaus, Jubel, im Saal geht eine Faust nach oben. In der Schweiz ist das Thema „Care-Arbeit“ jetzt sichtbar, ein gewerkschaftliches Pflegenetzwerk kümmert sich um die Anliegen der Care-Migrantinnen. Ein Vorbild, auch für Berlin. Schon beim Abendessen wird in kleinen Gruppen darüber gesprochen, wie eine „Care-Economy“ aussehen könnte, in der nicht mehr Profit, sondern die Bedürfnisse der Menschen im Zentrum stehen.

Am nächsten Tag dann: Workshops. Etwa zum Thema Wohnen. Die Mietgemeinschaft Kotti & Co hat in einen Seminarraum geladen, etwa 60 Menschen nehmen teil. Die Probleme, das wird schnell klar, sind in Berlin, Leipzig, Marburg, Frankfurt die gleichen. „Privatisierung“, „Homogenisierung der Kieze“ lauten die Schlagworte. Als eine Unterstützerin der Lampedusa-Flüchtlinge aus Hamburg spricht, zeigt sich jedoch auch, dass die Betroffenheit ganz unterschiedliche Grade haben kann. Diejenigen, die Politik machten, seien meist weiß und mittelschichtig – wie man auch hier bei der Konferenz wieder sehe. Wenn es um ein „gutes Leben für alle“ gehen solle, müssten sich die Strukturen aber auch für diejenigen öffnen, die sich diese Form des Engagements nicht leisten könnten.

Borussia-Dortmund-Rufe

Keine klaren Antworten, aber viele wichtige und richtige Fragen. Als die rund 500 Menschen der Konferenz diese Fragen auf die Straße tragen wollen, trifft ihr Veränderungswille auf die kalte Berliner Wirklichkeit. Auf Plakate haben sie Sprechblasen gemalt: „Es gibt keine richtige Pflege im Falschen“. Oder: „40-Stunden-Job, 3 Kinder und 1 Pflegefall? Mach doch Yoga!“ Manche tragen das lila Transparent mit dem Care-Revolution-Symbol aus Klobürste, Wischmob und Nudelholz. Andere tragen Krankenhauskittel oder Regenbogen-Staubwedeln. Die Passanten in Berlin-Friedrichshain reagieren mit Stirnrunzeln. Oder, noch schlimmer: mit Häme. Rufen die Demonstrantinnen „One Solution Care-Revolution!“, schallt es von der anderen Straßenseite „Borussia Dortmund!“ zurück, Autos hupen. Das ist bitter. Aber: Wie will man jemandem im Vorbeilaufen die Anliegen der Care Revolution erklären? Noch dazu, wenn die Beteiligten selbst nicht genau wissen, was das eigentlich ist?

Am letzten Tag kommen die Teilnehmerinnen noch mal zu einem eineinhalbstündigen Resolutionsplenum zusammen. Es wird verhandelt, um Formulierungen gestritten. Soll das bedingungslose Grundeinkommen als Forderung mit aufgeführt werden? Muss „der Kapitalismus abgeschafft werden“, wie manche es gern lesen wollen? „Schreiben wir ,Frauen’ oder ,Frauen*’?“ Schließlich einigt sich der nicht mehr ganz so volle Saal auf eine erste Fassung einer Resolution. Geplant ist ein Netzportal, außerdem die Vereinsgründung. Das Ziel ist klar: Die Fragen der Care-Revolution sollen auch in andere Bewegungen hineingetragen werden. Wenn die Zeit dafür nur reicht.

(Foto: Ruben Neugebauer / zuerst erschienen in: der Freitag 12/14 vom 20.3.2014)

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