Meißen, Niederstedem, Haldensleben, Jürgenstorf, Königs Wusterhausen – um nur fünf Orte zu nennen, an denen in den vergangenen Tagen Anschläge auf bewohnte oder zukünftige Unterkünfte für Geflüchtete stattfanden. Noch vor ein paar Jahren hätte man wahrscheinlich nicht die Hälfte mitbekommen. Heute ploppen täglich Meldungen mit noch nie gehörten Ortsnamen bei Twitter auf, zusammengehalten von dem Hashtag#Kaltland. In manchen Nächten kann man die Pogromstimmung sogar im Liveticker verfolgen. Wie im Juni, als die rassistische Initiative „Nein zum Hotelheim“ in Freital vor das einstige Hotel Leonardo marschierte.
Die Dresdner Johannes Filous und Alexej Hock waren vor Ort und twitterten, wie sich die wenigen Unterstützer vor das Heim und die Asylsuchenden stellten, wie die Polizei Böller und wohl auch Steinwürfe bagatellisierte: „Persönliches Empfinden: Polizei nicht als Schutz vor Ort, sondern zur Deckung eines gewaltbereiten Mobs. #sächsischeverhältnisse #freital“
Angefangen haben sie am 2. März, als 150 Rassisten mit „Ausländer raus“-und „Weg mit dem Dreck“-Rufen das Protestcamp der Refugees an der Dresdner Semperoper stürmen wollten. Nur ein Reporter war da. „Wir wollten einfach nüchtern berichten, was hier passiert, weil sich viele das gar nicht vorstellen konnten. Und wir dachten, dass das gut in 140 Zeichen geht“, sagen sie heute. Straßengezwitscher heißt ihr Account – „Reportagen und Liveticker von dort, wo es brennt“. Sie berichteten von Demos der „Initiative Heimatschutz“ in Meißen, am nächsten Tag von einem Sommerfest mit Geflüchteten in Schmiedeberg, von den Zeltunterkünften in Dresden. Für ihr Engagement verleiht ihnen der Förderkreis des Denkmals für die ermordeten Juden Europas nun den Preis für Zivilcourage in Höhe von 3.000 Euro. Dabei sei ihr Einsatz eigentlich etwas Selbstverständliches, finden die beiden 26-Jährigen, Rassismus ernst nehmen und darüber berichten. Am Dienstag haben sie das zum ersten Mal für das Recherchebüro Correctiv von der Demonstration der NPD in Riesa getan. Bald wollen sie auch mit Videos arbeiten.
Der Preis zeigt, dass es derzeit gar nicht genug antirassistischen Journalismus in Deutschland geben kann. Vielleicht auch weil Sachsen mit 44 von 202 registrierten Angriffen auf Unterkünfte in den ersten sechs Monaten des Jahres die Hochburg ist, versuchen sich besonders viele Initiativen an der Vermessung der sächsischen Verhältnisse. Der Blog Perlen aus Freital etwa, der Facebook-Einträge der lokalen Rassistinnen und Rassisten sammelt und zeigt, wie alltäglich der Vernichtungswunsch heute daherkommt: Wenn unter Klarnamen gefordert wird, Züge wieder mit „Pack zu füllen und direkt in die Gaskammern zu entleeren“. Oder die Gruppe „Durchgezählt“, die sich im April gegründet hat, um die wöchentlichen Pegida-Demonstrationen in Dresden zu überprüfen. Endlich gibt es verlässliche Teilnehmerzahlen, teils nur halb so hoch wie die Schätzungen der Polizei.
Wege aus dem Beobachtungsmodus geht übrigens die letztjährige Preisträgerin für Zivilcourage, die Initiative „Hellersdorf hilft“. In deren Twitterprofil steht: „Wer eine Not erblickt und wartet, bis er zur Hilfe gebeten wird, ist ebenso schlecht, als ob er sie verweigert hätte.“ Der Spruch ist zwar schon ein paar hundert Jahre alt. Aber er enthält eine Frage, die sich mit jeder Meldung aus #Kaltland neu stellt. Sofern man privilegiert ist.
(Erschienen in der Freitag 34/15)
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