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Sanktionen: Hungern gegen Hartz

Seit mehr als zwei Monaten hat Ralph Boes nichts mehr gegessen – außer ein paar Papierzettel: die Lebensmittelgutscheine vom Jobcenter Berlin-Mitte. 13 Kilogramm hat er abgenommen, Kopfschmerzen, brennende Haut und eine treibende Unruhe begleiten ihn seit Wochen. Wie lange es noch so geht, weiß er nicht. Aber heute Abend geht’s. Wieder ziehen Ralph Boes und seine Unterstützer mit Kreide den Kreis auf dem Pflaster vor dem Brandenburger Tor nach. In der Mitte steht das braune Tischchen mit eingelassenem Schachmuster, darauf eine Karaffe Wasser, zwei Gläser. Wer will, kann sich zu ihm setzen und fragen, was er hier macht. Boes wird erzählen, ruhig, bestimmt und immer freundlich. Den Hunger merkt man dem 58-Jährigen nicht an. Außerhalb des Kreises sammeln sich ein paar Touristen, gucken auf die Flugblätter am Boden und murmeln: „Geht es hier nur um Arbeitslose? … Was sind Sanktionen?“

Wohnung, Krankenversicherung, 399 Euro: Das ist das vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Existenzminimum. Eigentlich. Seit der Einführung von Hartz IV können die Jobcenter jedoch Erwerbslose mit Sanktionen bestrafen, wenn sie nicht zu einem Termin erscheinen, ihre monatlichen Bewerbungen nicht geschrieben haben oder einen Ein-Euro-Job nicht mitmachen wollen. Dann können die Jobcenter ihren „Kunden“ die Bezüge kürzen, um 10 Prozent, 30 Prozent und mehr. „Fördern und Fordern“ nannte das Rot-Grün damals. Eine Million solcher Sanktionen verhängen die Jobcenter pro Jahr. 6.800 Menschen waren im April diesen Jahres „vollsanktioniert“, wie es in der Statistik heißt. Vom Existenzminimum bleibt dann nichts mehr übrig: Sie bekommen gar kein Geld mehr vom Arbeitsamt, nicht einmal die Miete für ihre Wohnung. Einige werden obdachlos.

Er will kein Geld, nur Sanktionen

Weil Ralph Boes ein besonders widerspenstiger Fall ist, hat ihn das Jobcenter Berlin-Mitte derzeit sogar mit 200 Prozent sanktioniert. Das heißt, dass er in diesem Monat nur 20 Essengutscheine vom Amt bekommen hat, jeweils im Wert von zehn Euro. Mehr als 2,50 Euro Wechselgeld dürfen die Supermärkte nicht auszahlen – wenn sie die Gutscheine überhaupt annehmen. Sogar diese Gutscheine muss man beantragen. Weil Boes 16 Jahre lang als Krankenpfleger und Sterbebegleiter gearbeitet hat, nutzt er häufig Bilder aus jener Zeit: „Das ist, wie wenn jemand erstickt und man sagt: Der stellt ja gar keinen Antrag auf Beatmung!“ Boes reißt sich einen kleinen Schnipsel von dem Gutschein ab und schiebt ihn sich in den Mund. Für ihn ist das kein würdiges Leben, wie es das Grundgesetz garantieren sollte. Und das sollen jetzt endlich alle mitbekommen.

Seit drei Jahren versucht Boes die Sanktionspraxis der Jobcenter auf die Spitze treiben. Er ist, wie er von sich selbst sagt, wahrscheinlich „der einzige Hartzer, der nie Geld wollte. Ich wollte immer nur Sanktionen.“ Er ist keiner Aufforderung des Jobcenters nachgekommen, hat die Sanktionen gesammelt – um vor Gericht gegen sie klagen zu können. Schon elf Mal stand er in Berlin vor einem Sozialrichter. Doch keiner wollte den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorlegen.

Im Mai dieses Jahres hat es endlich geklappt: Das Sozialgericht in Gotha hat die Sache nach Karlsruhe verwiesen. Da liegt die Entscheidung nun, niemand weiß, wie lange. Um weiter Druck zu machen, beschloss Boes zu hungern. Bis alle Sanktionen aufgehoben werden. Für ihn geht es dabei nicht alleine um Erwerbslose: Hartz IV mit den Sanktionen ist für Boes der große Angstmacher unserer Zeit. Aus Angst, den Job zu verlieren, die Wohnung, die soziale Stellung, die Familie, würden die Menschen heute alles tun, was der Markt von ihnen verlangt. Um diese systemische Angst zu besiegen, erzählt Boes, musste er zunächst seine eigene Todesangst besiegen.

Ein Kreis von Unterstützern

Sein Geist sei nun schon in einer anderen Sphäre, sagt er, nur der Körper reagiere noch etwas panisch auf das Hungern. Auch etwas Esoterik gehört zu Ralph Boes, wie der rote Schal, den er selbst im Hochsommer trägt. Und noch etwas: Vor einem Jahr ist er in Neubrandenburg bei einer der umstrittenen Montagsmahnwachen für den Frieden aufgetreten. Sind das Gründe, warum sich bisher so wenig Menschen interessieren für das öffentliche Verhungern von Ralph Boes?

Immerhin: Die Linkspartei-Vorsitzende Katja Kipping besuchte ihn am Brandenburger Tor, auch die SPD-Politikerin Gesine Schwan war schon mal da. Und es gibt einen festen Kreis an Unterstützern, auch Inge Hannemann zählt zu ihnen, die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin aus Hamburg. Die Initiative nennt sich „Wir sind Boes“ und setzt sich auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Einige von den Unterstützern fragen sich, ob Boes erst umkippen muss, ehe wieder in einer größeren Öffentlichkeit über Hartz IV gesprochen wird.

Für die Behörden geht alles mit rechten Dingen zu: Eine Prüfung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hat ergeben, „dass das zuständige Jobcenter die Belange von Herrn Boes mit der gebotenen Umsicht und Gründlichkeit führt“. Man bedauere außerordentlich, „dass Herr Boes für dieses politische Ziel bereit ist, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen“, schreibt eine Sprecherin des Ministeriums. Laut Jobcenter ist nicht abzusehen, dass die Sanktionen gegen Boes aufgehoben werden, solange sie das Bundesverfassungsgericht nicht für grundgesetzwidrig erklärt habe, sagt ein Sprecher und verweist wiederum auf die Gutscheine.

Die scheinen die wichtigsten Belege für ein menschenwürdiges Leben in Zeiten von Hartz IV zu sein. Boes will sie seinem Magen jedoch nicht zumuten und spuckt sie nach einer Weile lieber wieder aus. Dann stellt er ein frisches Glas auf den Tisch und schaut in die Runde: Wer möchte jetzt?

(Zuerst erschienen in der Freitag 36/15)

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