Erschienen in der Freitag 49/11
Moby Dick war eben doch nicht bloß ein weißer Wal: Über die unerwartete Nachhaltigkeit eines Klassikers.

Als die Berliner Volksbühne jüngst eine Moby-Dick-Nacht veranstaltete, interessierte das kein Schwein. Dabei war viel geboten: Es gab einen Vorlesemarathon, im Hintergrund lief die Film-Adaption von John Houston, im Foyer und in den Gängen des Theaters vermischten sich Gelehrten-Kommentare und Interpretationen mit E-Gitarren. Sie war ein lauter, aber auch ein liebloser und leerer Walfänger, diese Volksbühne. Als könne zum 160. Geburtstag des Romans keiner mehr was mit Moby Dick anfangen.

„Es ist nur ein Wal“, sagt auch Kapitän Ahab aka William Hurt in der Neu-Verfilmung, die RTL kürzlich ausstrahlte. Alles, was hier vom metaphysisch aufgeladenen Schinken bleibt, ist das Abenteuer eines naiv-glotzenden Jünglings namens Ismael. Wobei – wen interessieren auch Hunderte von Seiten über Schiffsknoten und Walfanggeschichte? Wer wollte das lesen oder gar anschauen?

Man fragt sich, was Melville zu unserer Zeit beizusteuern hätte. Im Grunde schrieb er die immer gleiche Geschichte: Ein Jüngling fährt zur See, gefangen auf dem Schiff wird alles irgendwie zur Qual. Oder: Das Subjekt in der Gesellschaft. Und immer geht es um die Frage: Was tun, Jüngling? Weil auf Seeabenteuer schon damals niemand mehr Lust hatte, verlegte Melville die Erzählung vom gefangenen Subjekt aufs Land: Zwei Jahre nach Moby Dick schuf er in der Novelle Bartleby, der Schreiber – Eine Geschichte aus der Wall Street einen Urahnen der Occupy-Bewegung.

Bartleby ist als Kopist in einer Kanzlei beschäftigt. Nach kurzer Zeit hat er keine Lust mehr zu arbeiten. Formelhaft wiederholt er sein Mantra: „Ich möchte lieber nicht“, auch wenn er gefragt wird, was er stattdessen tun möchte. Von Gilles Deleuze bis zum Tiqqun-Kollektiv, überall musste der arme Kerl schon als Symbol für das aufbegehrende Subjekt herhalten, das die Alternativlosigkeit des Kapitalismus derart verinnerlicht hat, dass es nicht mehr weiß, was es denn tun könnte. Es bleibt nur die Geste der Verweigerung.

Bartlebys Nachfahren wurden mittlerweile aus dem Zuccotti Park geschafft, er selbst verhungerte im Gefängnis. Moralisch ist nur der, der den Mund nicht aufmacht. Alsbald verstummte auch Melville und fand erst 30 Jahre später seine Sprache wieder: In Billy Budd sind die Seeleute zwangseinberufen. Billy, ein Findelkind, stottert und kann sich nicht verteidigen, als ihn der bösartige Polizeichef beschuldigt, eine Meuterei angezettelt zu haben. Billy schlägt ihn daher mit einem Fausthieb tot. „Hätte ich reden können, so hätte ich nicht zugeschlagen“, sagt er, ehe er gehängt wird. Melvilles Fazit: Zuschlagen und hingerichtet werden. Oder „Lieber nicht“ sagen und verhungern.

Lieber wieder zurück zu Moby Dick: Es gibt eben nichts Wichtigeres als die Kapitel über Walfang und Schiffstechnik! Ismael studiert alle Gerätschaften, ackert sich durch die Geschichte des Metiers. Er analysiert, was ihn beherrscht, entwickelt eine Haltung aus naiver Empirie und angelesenem Wissen heraus, versucht das Geschehen und den weißen Wal sprachlich zu fassen. Man könnte das immanente Kritik nennen.

Was Ismael am Schluss das Leben rettet, ist allerdings der pure Zufall: Der eigens für den Harpunier Quiqueck gezimmerte Sarg steigt aus dem Strudel der sinkenden Pequod empor und wird für Ismael zur Rettungsboje. Die gibt es auf jedem noch so totalen Schiff. Hoffentlich.

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