Slavoj Žižek ist mit seinem neuen Buch erneut durch die Feuilletons gereicht worden. Er gilt weithin als Vertreter einer gescheiterten Ideologie, als Referenz für unverbesserliche linke Nostalgiker und Chávez-Sympathisanten. Žižek sei auf der Suche nach einem altbekannten Heilsversprechen, schrieb die „Süddeutsche“, doch darauf werde niemand mehr hereinfallen. Der Berliner „Tagesspiegel“ kritisierte den „revolutionären Fundamentalisten“, dessen „Verheißungen des Realkommunismus“ gerade in Zeiten der Krise gefährlich seien. Und für die FAZ ist der slowenische Philosoph und Psychoanalytiker nur noch ein „bärtiger Freak“, dem es „um nichts mehr geht“.(1) Woher rührt diese Ablehnung?
Es stimmt: Žižek publiziert ohn’ Unterlass. Und in der Tat muss man nicht alles lesen; Žižek selbst hält nur zwei bis drei seiner Bücher für wirklich gelungen (an erster Stelle steht für ihn „Die Tücke des Subjekts“). Und doch geht es bei ihm, anders als die FAZ behauptet, immer um alles.
„Auf verlorenem Posten“ heißt sein jüngstes Buch – im englischen Original „In Defence of Lost Causes“. Diese „verlorene Sache“ ist bei Žižek die globale Emanzipation. Und trotz vieler bereits bekannter Artikel wird darin zum ersten Mal explizit deutlich, worin sein zentrales theoretisches Anliegen besteht: Es geht um „Die Krise der bestimmten Negation“, wie Žižek das zweite Kapitel des Buches überschreibt. Er begibt sich erneut in die scheinbare Sackgasse der Kritischen Theorie, um die Frage nach jener politischen Praxis zu stellen, die Adorno vor 40 Jahren in der „Negativen Dialektik“ auf „unabsehbare Zeit“ vertagt hatte. Kurz: Es geht ihm um das Erbe der Kritischen Theorie.
In Žižeks erstem Buch, „The Sublime Object of Ideology“, finden sich gerade einmal drei Verweise auf Adorno; das ist nicht viel für ein Buch, das sich der Ideologiekritik verschrieben hat. In „Auf verlorenem Posten“ erhebt Žižek Adorno und die „Krise der bestimmten Negation“ nun zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Dennoch wurde diese Verbindung bisher vollständig ignoriert.
Žižek geht es zunächst erneut um seine These, derzufolge jeder, der heute vom „postideologischen Zeitalter“ und von der schrankenlosen Freiheit des Subjekts spricht, selbst im Dienste der Ideologie steht. Denn er macht den Kapitalismus zur Grundlage jedes Gedankens und jeder Handlung. Die postmodernen Dekonstruktivisten werden so für Žižek zu „nützlichen Idioten des Kapitalismus“, wie „Die Zeit“ schrieb.(2) Dagegen befindet sich das Subjekt bei Žižek in einer verzweifelten Lage: Es lebt in einer Gesellschaft, zu der es keine Alternative mehr sieht. Zudem soll es die eigenen Entscheidungen, die keine sind, nunmehr auch noch „genießen“. Jede Wahlmöglichkeit werde so zu einer „erzwungenen Wahl“.
Dieses Problem der „erzwungenen Wahl“ beschäftigte bereits Adorno: Was auch immer der Einzelne gegen die Totalität unternehme, schrieb Adorno, er mache sich als Teil derselben immer „mitschuldig“ am Fortbestand des schlechten Ganzen. Was also kann das Subjekt tun? Wie kann es überhaupt noch politisch tätig sein, wenn es doch kein Richtiges mehr im Falschen gibt? Bei Adorno kann sich das Subjekt nicht einmal mehr ein Bild von einer anderen Welt machen, da es bis ins Innerste von ebendieser „falschen“ Welt durchdrungen ist. Aus diesem Grund fallen Theorie und Praxis „auseinander“, sie lassen sich nicht mehr „zur Synthese zusammenleimen“.(3)
Für Žižek besteht die Sackgasse darin – und das ist ein altbekannter Vorwurf an die Kritische Theorie –, dass Adorno in Reaktion auf diese paradoxe Situation den Fokus ganz auf die Theorie verlagere. Damit nehme er zwar eine kritische Distanz zum Geschehen ein, belasse jedoch alles beim Alten. Der Kritische Theoretiker ist daher in Žižeks Augen selbst tendenziell einer der „nützlichen Idioten“ des Kapitalismus.
Was also folgert Žižek für Theorie und Praxis? Drei Positionen finden sich in seinen Schriften. Eine erste Form von Praxis besteht – wie bei Adorno – darin, sich der Praxis schlicht zu verweigern. „Wer denkt, haut nicht mehr drauf, frisst nicht mehr“, meinte Adorno.(4) Freiheit bestehe vielmehr zunächst darin, sich einer Situation entziehen zu können. Das sieht auch Žižek so. Im Oktober 2008, als sich die Politik mit Bankenrettungsplänen überschlug, erneuerte er jene Praxisverweigerung, der sich Adorno angesichts des hektischen Treibens der Studentenproteste verschrieb. Denn der „magische Zwang“, etwas zu unternehmen, mündet laut Žižek in Alternativlosigkeit. Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, „in was für einer Gesellschaft wir leben, in der eine solche Erpressung möglich ist.“(5)
Die Subjekte reproduzieren die schlechte Totalität also bereits durch ihre bloße Existenz. Aus dieser theoretischen Ausgangslage ergeben sich drastische Handlungskonsequenzen, die bereits Adorno und Horkheimer bewusst waren. „Verlangt eine andere Praxis unter diesen Umständen nicht“, fragte Horkheimer in einem Gespräch mit Adorno, „dass man sich umbringen soll?“ Adorno relativiert: Wenn es das Ziel sein soll, anders zu denken und anders zu handeln, dann müsse der echte Gedanke die eigene Interessenlage negieren.(6) Denn die eigene Interessenlage, die pure Selbsterhaltung, reproduziert auch „das Falsche“.
Dieser Gedanke, der das Dilemma der Kritischen Theorie reflektiert, spielt bei Žižek eine entscheidende Rolle, als zweite Form der Praxis. In einem von ihm gerne gebrauchten Beispiel wird der Schuss ins Bein zum Akt des Widerstands. Er ist für Žižek ein Synonym für Hegels zentrale Eigenschaft des Subjekts, die „Negativität“: die Fähigkeit zu abstrahieren, sich von allem loszumachen, einschließlich des eigenen Lebens. „Auf verlorenem Posten“ übersetzt dieses Modell in die politische Praxis und nennt es, in Anlehnung an Alain Badiou, „Politik der Subtraktion“. Durch die Weigerung, an den Praktiken, Normen oder Ritualen der Gesellschaft teilzunehmen, entziehe man der Totalität die Grundlage. An der richtigen Stelle angesetzt sei es so möglich, die etablierte Ordnung wie ein Kartenhaus zum Einsturz zu bringen und sie ihrer eigenen Leere auszusetzen. Das ist für Žižek der revolutionäre Akt: Der Bruch mit dem Alten und gleichzeitig ein Sprung ins Nichts, aus dem allein eine neue Situation entstehen kann. Nicht nur die Französische Revolution wagte diesen Sprung und damit die „absolute Negativität“. Žižek bezieht sich auch auf den passiven Widerstand Gandhis und auf die Abgabe ungültiger Wahlstimmzettel als mögliche Praxis einer „Politik der Subtraktion“ und damit als Weg, dem Gegebenen die Legitimität zu entziehen.
Praxis in diesem Sinne ist immer unvorhersehbar. Ebendiese Konsequenz war für Adorno nicht akzeptabel. Es wäre eine Praxis, in der jederzeit die Möglichkeit des Scheiterns und des Terrors besteht. Hier liegen für Adorno die Rechtfertigung des „Glücks am Geiste“ und der Grund dafür, lieber auf die langfristig verändernde Kraft der Theorie zu setzen und Theorie als „ein Stück“ Praxis zu begreifen. Diese Folgerung führt nach Žižek jedoch dazu, dass alles so bleibt wie es ist. Denn jede Utopie, schrieb er zuletzt, ist aus der Perspektive des Bestehenden zunächst immer eines – gefährlich.(7)
Das „Glück am Geiste“ oder der „Sprung ins Nichts“? Theorie und Praxis fielen nicht auseinander, wenn dies das letzte Wort wäre. Sowohl Adorno als auch Žižek waren bzw. sind durchaus im „Falschen“ politisch aktiv. Eine dritte Form der Praxis, die nun auch Žižek in seinem neuen Buch propagiert, findet sich in Adornos „Negativer Dialektik“, wenn er schreibt, es müsse „trotz allem“ darum gehen, „die Katastrophe abzuwenden“.(8)
Die unterschiedlichen Erfolgsaussichten, die beide Theoretiker diesem politischen Engagement zuweisen, liegen vor allem im Ton. Dass in Adornos Werk eine tragischere Stimmung in Bezug auf diese „kleine“ Praxis herrscht, liegt vor allem daran, dass die 68er-Studenten mit ihrem „Primat der Praxis“ so täten, als hätte sich die Katastrophe mit dem Holocaust nicht längst ereignet.
Für Žižek steht die Katastrophe nun erneut bevor. Und genau darin sieht er die Aufgabe der Kritischen Theorie: Durch die Vergegenwärtigung der Katastrophe soll ein Impuls zum Handeln gegeben werden. Denn die Klimakatastrophe, die Vernichtung unseres Lebensraums, können wir uns genauso wenig vorstellen wie eine neue Utopie. Dabei wissen wir, dass es nicht ewig „so weiter“ gehen wird. Gegen den Glauben, man könne sowieso nichts ändern, gilt es anzuschreiben und zu handeln – das ist Žižeks Anknüpfungspunkt an die Ideologiekritik der Frankfurter Schule.
Anders als in früheren Schriften setzt er dabei nicht mehr alleine auf den großen revolutionären Akt, sondern gesteht ein, dass diese Hoffnung durch geduldige Arbeit und kleinere Interventionen ergänzt werden müsse, notfalls auch an der Seite der „Liberalen“, die immer noch an den „Kapitalismus mit einem menschlichen Gesicht“ glaubten.(9)
Natürlich war Adorno skeptischer, was die Auswirkungen kleinerer Interventionen auf das große Ganze betrifft. Wer aber lieber die Hände in den Schoß legt und auf den großen Akt wartet oder gar nichts unternimmt, kann sich dabei weder auf Žižek noch auf Adorno berufen. Denn auch der Grundsatz der Kritischen Theorie, so Horkheimer, sei immer gewesen „trotz alledem theoretischer Pessimist und praktischer Optimist zu sein.“(10)
1 „Süddeutsche Zeitung“, 2.8.2009; „Der Tagesspiegel“, 10.8.2009; „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 10.11.2009.
2„Die Zeit“, 32/2009, S. 43.
3 Theodor W. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, S. 759-782.
4 Zit. nach Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt a. M. 1996, S. 32-72, hier S. 36.
5 Slavoj Žižek, Klassenkampf in Washington, in: „Die Zeit“, 42/2008, S. 63 f.
6 Zit. nach Horkheimer, a.a.O., S. 61.
7 Slavoj Žižek, 20 years of collapse, in: „New York Times“, 9.11.2009.
8 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1997, S. 317.
9 Vgl. auch Žižeks Vortrag „What does it mean to be a revolutionary today?“ www.youtube.com.
10 Max Horkheimer, Kritische Theorie heute und gestern, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 336-353, hier S. 353.
(Erschienen in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/10)
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