“Digital Activism Decoded”: In einem ambitionierten neuen Buch gehen Netzforscher der Frage nach, was die digitale Welt im Innersten zusammenhält

Endlich sprechen alle dieselbe Sprache. Eine Sprache aus Nullen und Einsen: der „digitale Code“ ist überall der gleiche – im Iran, den USA oder auf den Philippinen. Ein Internet-Zugang ist alles, was man braucht, um sich einzuklinken. Und trotzdem verstehen sich die Menschen nicht.

Bestes Beispiel hierfür sind die Unterhaltungen zwischen dem New-Yorker Medien-Forscher Clay Shirky und dem weißrussischen Journalisten und Blogger Evgeny Morozov. Zum Beispiel über die Rolle des Internets im Iran: Das Netz verschaffe endlich denen Gehör, die bisher vom politischen Prozess ausgeschlossen waren, die Revolution sei nahe, meint Shirky. „Ja, nur noch 20 Tweets“, kommentiert höhnisch Morozov und erklärt, wie das Regime in Teheran die neuen Kommunikationskanäle nutzt, um Gegner noch effektiver zu verfolgen.

„Digital Acitivism“ ist zum Schlagwort für alle Aktionen geworden, die sich einer digitalen Struktur bedienen, um soziale und politische Änderungen zu bewirken. In dem Buch Digital Activism Decoded – The new mechanics of change (hier als pdf)wird jetzt erstmals versucht, diese Phänomene genauso zu fassen. Im faustischen Sinne fragt Herausgeberin Mary Jones, Pionierin und Botschafterin der digitalen Aktion, was die (digitale) Welt im Innersten zusammenhält.

Ihr Buch versammelt 15 Wissenschaftler und Aktivisten, darunter auch netzpolitik.org-Blogger Simon Columbus. Die Autoren sehen sich allesamt als „praktische Idealisten“, die die digitalen Technologien in Zukunft besser nutzen wollen. Der Typologie des Buches zufolge sind sie am ehesten den Netz-Optimisten zuzuordnen: Die „Optimisten“ glauben, wie Clay Shirky, dass die Menschen das Netz vor allem zur Kommunikation, Information und Unterhaltung nutzen und sich politische Hierarchien durch das Internet ändern lassen. Dagegen schätzen die „Pessimisten“ à la Evgeny Morozov die Technologien negativ ein und betonen die Möglichkeiten illegitimen Handelns: Die Technik diene vor allem der Kontrolle, Zensur oder destruktiven Hackerangriffen. Die „Persistents“, die Konservativen, vervollständigen die klassische akademische Dreiteilung. Für sie stellt das Internet keine neue politische Dimension dar. Das Netz mache zwar einiges einfacher, wie Information, Organisation oder Mobilisierung, der politische Betrieb bleibe jedoch weitestgehend der gleiche.

Gegen die Verherrlichung

Die meisten Texte des Buches schwanken zwischen der optimistischen und der konservativen Betrachtungsweise, sind dabei jedoch angenehm selbstkritisch. Denn der „digitale Code“ an sich ist weder Fluch noch Segen, sondern immer im jeweiligen politisch-ökonomischen Kontext zu betrachten. Dass die digitale Welt kein Paralleluniversum ist, wurde spätestens mit der ersten Verhaftung eines Bloggers deutlich. Sina Motallebi wurde im Jahr 2003 in Iran festgenommen. Bis zum vergangenen Jahr mussten weitere 160 Blogger in 30 Ländern hinter Gitter. Umsturzpläne, Verrat, Spionage, so lauten die Vorwürfe. Lange Haftstrafen folgen, im Schnitt 87 Tage, wie Simon Columbus darlegt.

Gegen die uneingeschränkte Verherrlichung der digitalen Technik spricht auch die Verteilungsfrage. Nicht jeder kann Teil einer Graswurzelbewegung werden. Zwar steigen die Zugänge zum digitalen Code weltweit an, vor allem durch die Verbreitung von Smartphones. In Afrika, Südost-Asien und im Nahen Osten besaßen vergangenes Jahr 180 Millionen Menschen diese mobilen Endgeräte; 40 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Doch in „Niedriglohn-Ländern“ kostet der Netzzugang immer noch das 900fache des Pro-Kopf-Einkommens. Die digitalen Aktivisten sind deshalb meist Teil der ökonomischen Elite ihres Landes. „Digital Divide“ bezeichnet dieses weltweite und innergesellschaftliche Spaltung. Eine der Herausforderungen ist der Versuch, diese digitale Spaltung durch kostengünstige, effiziente Technologien zu überbrücken.

Der „Digital Divide“ ist dabei nicht nur ökonomischer Natur, sondern auch eine Frage der eigenen Fähigkeiten. In autoritären Staaten muss der digitale Aktivist wissen, wie er die Zensurbarrieren und Verfolgungsmaßnahmen umgeht. Er muss ein Freund der Technik sein und sich frühzeitig mit neuen Trends auseinandersetzen, um abschätzen zu können, ob sie ihm behilflich sein werden. Er muss im digitalen Code schwimmen wie der Fisch im Wasser.

Ist der Zugang zum digitalen Code einmal gesichert, geht es, ganz konservativ, um Fragen der Strategie und Taktik: „Was wir haben“ muss man in das verwandeln, „was wir brauchen“, um das zu erreichen, „was wir wollen“, zitiert der amerikanische Politikwissenschaftler Dave Karpf den alt-chinesischen Kriegstheoretiker Sun Tsu. Die Strategie bedient sich der Taktik, und diese ist relativ leicht messbar: Wie häufig wird eine Seite geklickt, wieviele „Freunde“ hat ein Projekt auf Facebook, wieviel „Fol lower“ auf Twitter, wie hoch ist die Verlinkung in der Blogosphäre – alles Fragen der Taktik und leicht messbare Größen.

Strategie in Kinderschuhen

Entscheidend ist aber, inwieweit diese taktischen Maßnahmen tatsächlich einen Einfluss auf politisch-soziale Strukturen haben. Und dieser Einfluss ist kaum messbar. Die einzige messbare Größe, die Karpf findet, ist die Mobilisierung von Spendengeldern im Wahlkampf. Darüber berichten die Massenmedien, was die Chance auf das Wahlverhalten Einfluss zu nehmen, theoretisch erhöht. Die „Web-Ökologie“, die Forschung nach einer Strategie, die im Digital Activism wirklich funktioniert, steckt also noch in den Kinderschuhen und das Buch endet mit dem Appell, diese Wissenslücke fächerübergreifend zu füllen.

Der digitale Aktivist muss also zunächst auf eine erfolgsversprechende Strategie verzichten. Bis es soweit ist, geht es vor allem darum, Aktivisten zu mobilisieren und bei der Stange zu halten. Einer Bewegung im Netz beizutreten kostet nur einen Klick. Genauso schnell kann man sie auch wieder verlassen. Für nachhaltiges Engagement braucht es einen dauerhaften Online-Raum sowie „offenen Erzählungen“, die es auch Neulingen möglich machen einzusteigen. Und ganz wichtig sind, so folgert ein Beitrag, immer wieder persönliche Treffen. Denn wenn sich Menschen „in Echt“ kennen, schafft das Vertrauen. Entscheidend ist außerdem das Herausbilden einer kollektiven Identität. Durch Fotos, Videos und andere spielerische Elemente sollen verbindende Erfahrungen generiert werden.

Die Gefahr jeder Netzbewegung ist dabei immer, dass sie in hierarchische Strukturen zurückfällt, um handlungsfähig und organisierbar zu bleiben. Also genau in die Strukturen, die sie hinter sich lassen wollte. Dann wäre alles wieder beim Alten. Das ist es zwar insofern, als dass die faustische Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, unbeantwortet bleiben muss. Und damit auch die Frage „Wieviele Tweets bis zur Revolution?“ Aber bis der gesamte soziale Körper der Menschheit in einem „Netzwerk der Karten“ visualisiert ist und alle Antagonismen aufgelöst sind, wie es sich der Optimist wünscht – solange muss es nicht unbedingt schlecht sein, wenn die Theorie des „Digital Activism“ der Praxis etwas hinterherhinkt. So lassen sich immer wieder neue Ideen ausprobieren.

(Foto: marco papapopulus, Lizenz: by-nc-nd / erschienen in der Freitag 24/10)

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