Nate Silver hat die Wahlergebnisse aller 50 amerikanischen Bundesstaaten vorausgesagt. Doch damit nicht genug: Seine Prognosen sollen in Zukunft Terroranschläge und Umweltkatastrophen verhindern.
Wenn Nate Silver so weitermacht, ist der Zufall bald Geschichte. Vor vier Jahren gab es immerhin noch Indiana, dessen knappe Mehrheit für Obama Silver nicht auf dem Schirm hatte. Doch jetzt hat der begnadete Statistiker und „New York Times“-Blogger die Wahl in allen fünfzig Bundesstaaten richtig vorausgesagt. Über Nacht ist sein Buch „The Signal and the Noise: Why So Many Predictions Fail – but Some Don’t“ auf Platz zwei der Amazon-Bestsellerliste geschossen, die Verkäufe sind um 850 Prozent gestiegen.
Wer würde nun nicht gern wissen, wie man die Zukunft voraussagt? Für Silver ist die Antwort gleichbedeutend mit einer anderen Frage: Wie kann man Voraussagen erstellen, die statistische Verzerrungen nicht ausschließen, sondern sie mitdenken und dadurch minimieren. Schon im Jahr 2003 hat er versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und damit begonnen, die Karriere bekannter Baseballspieler vorauszusagen, indem er ähnliche Spielertypen miteinander verglich und auf der Basis vergangener Leistungen auf mögliche Karrieren hochrechnete.
Selbstbestimmtes Schicksal
Stets versucht Silver bei seiner Arbeit, der Dynamik der untersuchten Systeme gerecht zu werden, indem er alle vergleichbaren Fälle mit in seine Ergebnisse einfließen lässt und diese ständig aktualisiert – je mehr Daten, desto besser. Seinen Wahlprognosen liegen demnach nicht nur die jeweiligen Umfragen zugrunde, sondern alle bisherigen Werte, mit all ihren Schwankungen über die vergangenen Jahrzehnte. Vor zwei Jahren hat sich die „New York Times“ Silvers Blog „Five Thirty Eight“ einverleibt. Der Vierunddreißigjährige, der sich noch bis vor kurzem sechsstellige Summen im Jahr beim Pokern dazuverdient hat, ist für die Zeitung eine wahre Traffic-Maschine geworden: Zwanzig Prozent aller Online-Leser der „New York Times“ waren am Tag vor der Wahl auch auf Silvers Blog. Doch wie die Zahlen, die sie dort finden, genau zustande kommen, das ist für einen Laien kaum nachvollziehbar.
Deshalb hat Silver darüber ein Buch geschrieben, das seit zwei Monaten auf dem Markt ist, eine Mischung aus Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und Sport. Am Anfang stehen amerikanische Traumata: Pearl Harbor und der 11.September. Anzeichen und Daten dafür, schreibt Silver, gab es; es habe sie nur niemand miteinander verknüpft. Keiner habe eine Ahnung gehabt, was die Terroristen tun könnten. Doch wenn es eine Sache gebe, die Amerikaner definiere, dann, „dass wir unser Schicksal selbst bestimmen können“. Dabei könnten Voraussagen helfen.
Nächtliche Wunschvorstellungen
Silver breitet ein dialektisches Geschichtsbild aus, dem zufolge neue technische Entwicklungen stets von katastrophalen Folgen begleitet sind: So habe die Druckerpresse Gutenbergs nicht nur für die massenwirksame Verbreitung neuer Ideen gesorgt, sondern auch Jahrhunderte des Krieges über die Menschen gebracht. Und jetzt seien wir im Zeitalter der „Big Data“, in dem riesige Daten- und Informationsmengen durch die Welt rauschten. Und nicht beherrschbare Datenmengen hält Silver potentiell für gefährlich. Also breitet er seine Wahrscheinlichkeitsrechnung, deren Methode er dem englischen Mathematiker Thomas Bayes (1701 bis 1761) entlehnt, auf alle problematischen Systeme unserer Zeit aus: den Terrorismus, den Finanzmarkt und den Klimawandel.
Man kann nun sagen, dabei komme die typische Allmachtsphantasie des Menschen durch, der versucht, sich vor allem nicht Wägbaren zu schützen. Oder man erkennt in Silvers „Big Data“ nichts anders als die Ansammlung von Geschichte, aus deren Katastrophen wir nun, auch dank der neuen technischen Möglichkeiten, vielleicht doch einmal lernen könnten. Die Angst, dass der Zufall in den Wunschvorstellungen der Menschen nun keinen Platz mehr hat, ist jedenfalls unbegründet. Nur ein Buch wurde in derselben Zeitspanne bei Amazon öfter verkauft als Silvers: „Das dritte Rad – Tagebuch eines traurigen Kindes“, es handelt von Greg, der Angst hat, den Valentinstag allein verbringen zu müssen. Doch dann bringt die Nacht für ihn eine glückliche, „unvorhergesehene Wendung“.
(Foto: Marius B, CC BY 2.0 / zuerst erschienen in der F.A.Z. vom 9.11.12)
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