Falls sich zurzeit jemand über die Dreißig-Sekunden-Videos mit zappelnden Menschen und abschreckender Musik wundert, die durch die sozialen Netze gereicht werden – man nennt dieses Virus „Harlem Shake“. Allein in den ersten zwei Februar-Wochen zog er mehr als 40.000 neue Youtube-Videos nach sich, die über 175 Millionen Mal angesehen wurden.
Und die Epidemie hält an: Mittlerweile werden mehr als 125.000 Treffer für „Harlem Shake“ gelistet. Das gleichnamige Lied ist mit 103 Millionen Streams in dieser Woche zum meistgehörten der Vereinigten Staaten geworden. Eine spontane Internetgeburt, die niemand geplant hat – am wenigsten der Urheber des Liedes selbst, der bis vor kurzem völlig unbekannte DJ Baauer.
Beim „Harlem Shake“ handelt es sich ursprünglich um einen Hiphop-Tanzstil, entstanden im New York der frühen achtziger Jahre. Er zeichnet sich durch viel Oberkörperbewegung aus, die Schultern bestimmen die Richtung, die Arme schlackern locker nach. Entstanden ist der neue „Harlem Shake“ Anfang Februar: Vier junge Männer filmten, wie sie zu dem Lied „Harlem Shake“ des New Yorker DJs Baauer „tanzen“.
Sie tragen bunte Ganzkörperkostüme und machen sexuell konnotierte Stoßbewegungen. Sobald der Bass des Liedes einsetzt und eine tiefe Stimme „Do the Harlem Shake“ sagt, beginnen sie, wie wild zu zappeln. „Das können wir auch“, sagten sich fünf australische Teenager, als sie den Clip auf Youtube sahen, und gaben dem „Harlem Shake“ seine gegenwärtige Form: Exakt dreißig Sekunden ist ihr Video lang.
Einer der Jungs hat einen Motorradhelm auf, tätigt die typischen Stoßbewegungen. Die anderen spielen Computer oder sitzen am Schreibtisch und tun so, als bemerken sie ihn nicht. Nach 15 Sekunden folgt ein Schnitt, der Bass setzt ein, dann ist einer der Jungs ausgezogen, ein anderer klebt an der Wand, alle fuchteln wild in der Gegend herum.
Ein neuer Hype war geboren. Vom Schwimmclub bis zur U.S.-Army-Einheit – sie alle laden ihre eigenen „Harlem Shake“ ins Netz, immer nach dem gleichen Muster: Eine Person tut etwas Seltsames, wird zunächst von den anderen ignoriert. Nach 15 Sekunden folgt der kollektive Kontrollverlust. Und die Sehnsucht danach scheint groß zu sein.
Unter den zigtausend Videos ist eines, das ein paar hundert Menschen am Times Square in New York zeigt, die unter Aufsicht der Polizei kurz loszappeln. Eine Hockeymannschaft wurde unterdessen von ihren Highschool-Play-offs ausgeschlossen, weil ihr „Harlem Shake“ in eine simulierte Rammel-Orgie in der Umkleidekabine ausartete.
Der „Harlem Shake“ gilt mittlerweile als legitimer Nachfolger des „Gangnam Styles“, jenes knallbunten Musikvideos aus Südkorea, das vergangenes Jahr innerhalb von ein paar Tagen als erstes die Milliarden-Marke an Youtube-Aufrufen knackte – ebenfalls mit Hilfe eigenwilliger Tanzeinlagen. Und wie immer, wenn so viele Menschen das gleiche Video verbreiten, es sogar nachahmen, fragen sich Marketingexperten, wie das geht.
Im Falle des „Harlem Shake“ kommen sie zu dem Ergebnis, dass das Video mit seinen dreißig Sekunden die ideale Länge für die gehetzten Internetmenschen habe, zum Anschauen, vor allem aber, um es nachzuahmen. Denn es liefere eine Struktur, die jeder adaptieren könne, ideales Futter für das Mitmach-Internet also. Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ empfiehlt schon, das Muster des „Harlem Shake“ für virale Kampagnen zum Vorbild zu nehmen. Dabei ist es mit Ereignissen im Internet so wie mit jedem in der Geschichte: Erklären kann man sie immer erst hinterher.
DJ Baauer verdient währenddessen an der losgetretenen Welle ein hübsches Sümmchen. Von den neu hochgeladenen Videos wurden bis Mitte des Monats mehr als viertausend Stück seiner Youtube-Content-ID zugeordnet. Rechteinhaber können über diese ID bestimmen, ob sie die entsprechenden Videos blockieren oder an ihrem Klicks mitverdienen wollen. Baauers Label ließ dem Virus seinen Lauf. Etwa zwei Dollar gibt es von Youtube pro tausend Klicks.
Da die bis dahin bereits registrierten Videos über dreißig Millionen Mal abgerufen wurden, erhält Baauer in der ersten Monatshälfte sechzigtausend Dollar von Youtube. Hinzu kommen die iTunes-Verkäufe: In den Vereinigten Staaten, Australien, in vielen europäischen Ländern ist sein Lied auf den ersten zwei Plätzen zu finden. So auch in Deutschland. Normalerweise hätte die Gema mit ihren Youtube-Sperren hierzulande ein Phänomen wie den „Harlem Shake“ gar nicht erst entstehen lassen.
Was im Falle dieser Epidemie allerdings kein Argument gegen sie ist. Der kurzzeitige Kontrollverlust wirkt auf Dauer ein wenig piefig und kommt einem komprimierten Karneval gleich. Es geht eben nichts über die zeitlose Schönheit der im Internet so verbreiteten Katzenvideos.
(zuerst erschienen in der F.A.Z. vom 23.2.2013)
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