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Antisemitismus: „Ventil der Gefühle“

Detlev Claussen, 66, hat in Frankfurt bei Adorno studiert und ist Professor an der Uni Hannover. Seit dem Buch “Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernen Antisemitismus” zählt er zu den bekanntesten Antisemitismusforschern. In Frankfurt habe ich mit ihm über die wieder aufgeflammten Proteste gegen Israel, den Hass auf Juden, schärfere Gesetze und die Aufgabe der Aufklärung gesprochen.

Herr Claussen, waren Sie in den vergangenen Tagen bei einer Pro-Palästina-Demonstration?

Detlev Claussen: Ja, neulich bin ich in Hannover in so eine Demonstration geraten. Ich habe es gemacht wie die Bürger in den 60ern und bin ganz schnell weitergegangen. Die Leute waren völlig verwirrt. Es war überhaupt kein politischer Wille zu erkennen, nur die Manifestation eines merkwürdigen undefinierbaren Volkszorns. So etwas ist immer ekelhaft.

Wen spricht dieser Zorn jetzt besonders an?

Zum einen sind da Palästinenser, die um das Leben ihrer Verwandten fürchten. Es ist absolut legitim, deswegen auf die Straße zu gehen. Aber um sie herum schart sich ein undefinier-barer Haufen von Menschen. In Deutschland haben wir es mit ein paar Ideologen zu tun, die aus dem salafistischen Milieu kommen. Dann sind da Hamas-Unterstützer, die aber nur eine ungefähre Ahnung davon haben, was die Hamas eigentlich ist. Für sie ist das ein Ausdruck abstrakter Radikalität. Die sind gegen Israel, gegen Amerika oder gegen Deutschland, da geht alles durcheinander. Außerdem gibt es Rechtsradikale. Und verblödete Antiimperialisten, die sich neben diese Leute auf die Straße stellen. In Frankreich ist es noch viel schlimmer.

Der französische Premierminister Manuel Valls spricht von einer „neuen Art des Antisemitismus“, die sich in den Banlieues ausbreite und der eine Jugend „ohne Orientierung und Geschichtsbewusstsein“ erliegen würde. Was ist neu an diesem Antisemitismus?

Hier ist überhaupt nichts neu. Seit 250 Jahren begleitet uns der moderne Antisemitismus in allen westlichen Gesellschaften. Er ist ein elementarer Bestandteil der westlichen Zivilisationsgeschichte. Seine einzige Botschaft lautet: „Die Juden sind an allem schuld.“ Sie kommt mal manifester zum Ausdruck, mal bleibt sie im Hintergrund. Diese Typen, die jetzt auf der Straße herumrennen, sind ein willkommener Anlass für latent antisemitische Gesellschaften und Medien, sich als nichtantisemitisch hinzustellen und zu sagen: die Antisemiten, das sind die Anderen.

Wie manifestiert sich die latente Form des Antisemitismus?

In fast allen westlichen Gesellschaften hat sich etwas durchgesetzt, das ich „Ja, aber“-Antisemitismus nenne: „Ja, Auschwitz war schlimm, aber man wird doch noch sagen dürfen …“ Und dann kommen die Ressentiments: Es sitzen zu viele Juden an der Börse, in den Medien, und Israel darf man auch nicht kritisieren – was ja überhaupt nicht stimmt! Jeder kann Israel kritisieren, so viel wie er will, wenn er tatsächlich Israel kritisiert! Ich kann ja auch Frankreich kritisieren, ich kann Spanien kritisieren für irgendwelche innenpolitischen Verhältnisse. Aber im Fall von Israel kommen oft keine Argumente, sondern die vermeintliche Kritik wird zu einem Ventil für Gefühle. Dagegen muss man immer wieder von neuem antreten.

Was irritiert Sie besonders, wenn Sie jetzt die Demonstrationen und die Debatte darüber verfolgen?

Mich macht misstrauisch, dass sich so viele Leute über Israel unheimlich aufregen, aber über Syrien kein Wort verlieren. Wir haben dort seit zwei Jahren solche Gräueltaten erlebt, aber Sie kriegen keine Demonstration mit mehr als 100 Leuten zusammen. Bei Israel ist das sofort anders. Da vermischt sich offenbar etwas. Das Schlimme an den Gruppierungen ist ja, dass sie den Nahostkonflikt als Vehikel benutzen für die eigene politische Agitation. Israel ist ein Gadget, das die Leute zusammenbringt.

Welche Rolle spielen dabei die Medien?

Was ich von den Medien verlange, ist, dass sie klarer differenzieren, also den Nahostkonflikt trennen von den Konflikten, die wir hier haben. Die Dynamik des Konfliktes in Israel und den palästinensischen Gebieten hat mittlerweile auf beiden Seiten eine Form von Rassismus produziert, die unerträglich ist. Freunde von mir waren auf einer Demonstration dagegen in Tel Aviv, da waren etwa 1.000 Leute. Davon kann man hier fast nichts lesen. Auch das wäre die Aufgabe der Medien, klar zu benennen und zu informieren: Was ist eigentlich der Sachverhalt, wo sind die Kräfte auf beiden Seiten, auf die man setzen könnte. Was sich hingegen hier auf den Straßen abspielt, ist eine ganz andere Geschichte.

Sie lehnen es ab, zwischen einem muslimischen Antisemitismus und einem christlich-westlichen Antisemitismus zu unterscheiden.

Dieser Antisemitismus ist ja nicht muslimisch, nur weil die Leute, die jetzt auf die Straßen gehen, als „Muslime“ identifiziert werden. Die meisten von denen wissen doch nicht einmal, wer der Prophet war. Die aktuelle Zuspitzung ist nur vor dem Hintergrund des Islamismus zu verstehen. Der Islamismus ist eine politische Ideologie, die in Reaktion auf die Säkularisierung der arabischen Welt entstanden ist. Das hat aber mit Religion nichts zu tun. Das sind politische Gruppierungen, die nicht akzeptieren wollen, dass wir in einer ethnisch heterogenen Gesellschaft leben, mit ganz unterschiedlichen Lebensformen.

Michèl Teboul, die Vorsitzende der jüdischen Institutionen in Marseille, hat kürzlich gesagt, die Juden würden in Zeiten der Krise nun zum „Sündenbock einer zerfallenen Welt“ gemacht.

In Frankreich gibt es eine Massenbasis von deklassierten Jugendlichen und Erwachsenen, die seit 30 Jahren ohne Chance sind. Also ja, wir leben in einer zerfallenen Welt. Seit etwa 30 Jahren gibt es ja nicht einmal mehr die Angst vor irgendeiner gesellschaftlichen Alternative. So lässt man die Heranwachsenden in den Banlieues vor sich hin vegetieren, bis sie straffällig werden. Es ist wie mit den Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten: Die einzige Antwort dieser Gesellschaften auf soziale Missstände sind Gefängnisse. Diese Menschen haben gemerkt: Wenn sie für ihre eigenen Anliegen einstehen, nimmt das niemand wahr. Gibt es aber antiisraelischen Protest mit antisemitischen Parolen, dann sind die Medien da.

Das funktioniert quasi auf Knopfdruck?

Israel ist für sie ein wunder Punkt in der Legitimation der westlichen Gesellschaften. Das ist eine fürchterliche Verknüpfung. Dann kommen die ekelhaften Sachen dazu: dass Menschen verfolgt und verprügelt werden, die man für Juden hält. Alles wird befeuert von politischen Agitatoren, von denen es seit 9/11 viel mehr gibt. Für die ist der Nahostkonflikt eine Nährquelle.

Gilt das auch für Deutschland?

Hier gibt es diese Massenbasis nicht. Aber ein paar Hundert reichen völlig aus. Es ist ja auch erschreckend, wie viele Leute sich hier ködern lassen, um als nützliche Idioten in Syrien zu kämpfen. Da muss man viel in die Jugendarbeit stecken, immer wieder neue Angebote machen und sich nicht aus Jugendzentren zurückziehen, wenn ein paar Salafisten kommen. Diese Debatten gibt es auch hier in Frankfurt.

Angebote zu schaffen ist das eine. Wie kann man den Antisemitismus akut bekämpfen?

Man kann den Antisemitismus nicht direkt bekämpfen. Antisemitische Taten schon. Da sind die Amerikaner weiter. Auch wir sollten strafgesetzlich etwas Ähnliches einführen wiehate crimes, damit Leute auch Sanktionen spüren, wenn sie Sachen rufen wie: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein.“ In Deutschland gibt es nur den diffusen Begriff der Volksverhetzung, da fallen solche Äußerungen nicht einmal darunter. Hate crimes sind eine klare Sache und würden nicht nur für antisemitische Parolen gelten, sondern anerkennen, dass Worte bereits so aggressiv sein können, dass sie die Würde eines Menschen verletzen. Das wäre viel mehr wert als Festtagsreden über Wertegemeinschaften.

Und jenseits des Strafgesetzbuchs?

Immer noch: Aufklärung. Und zwar nicht in dem Sinn, dass der liebe Lehrer kommt und erzählt, dass in Wahrheit alles ganz anders ist. Aufklärung bedeutet, es Menschen zu ermöglichen, gesellschaftliche Konflikte zu begreifen und diese mit den Mitteln von Verstand, Organisation, und politischem Willen zu verändern. Solche Erfahrungsräume zu schaffen, ist das Allerwichtigste. Wer gelernt hat, bewusst für die eigenen Interessen zu kämpfen, wird niemals auf antisemitische Parolen hereinfallen.

(zuerst erschienen in der Freitag 31/14 vom 31.7.2014)

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