Aus Hamburg und Kiel sind die Familien nach Berlin gekommen, um zwischen Brandenburger Tor und Bundestag ein Zeichen gegen ihre drohende Abschiebung zu setzen. 40 Roma aus den Westbalkan-Staaten haben am 22. Mai das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma besetzt. Noch in der gleichen Nacht, nach gescheiterten Vermittlungsversuchen, ließ die Denkmal-Stiftung die Männer, Frauen und Kinder durch die Polizei räumen.

Seitdem haben Verbände und Organisationen viele Stellungnahmen geschrieben und Positionen ausgetauscht. Nicht alle sind einer Meinung. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, kritisiert zwar die Abschiebungen von Roma in angeblich sichere Herkunftsländer, sagt aber auch, dass dieser Ort des Gedenkens an die über 500.000 ermordeten Sinti und Roma nicht „für politische Protestaktionen missbraucht“ werden dürfe. Petra Rosenberg, Vorsitzende des Berliner Landesverbands, findet hingegen, wenn es eine passenden Ort gebe, dann diesen. Und der Jugendverband Amaro Foro hat zusammen mit 20 weiteren deutschen Roma-Organisationen die Frage aufgegriffen, die die Besetzungsaktion an das politische Berlin stellt:

„Wo waren sie, als es darum ging, die aus der historischen Verantwortung entstehende Solidarität mit den europäischen Roma und Romnija praktisch werden zu lassen?“

Die Solidarität wurde zu offiziellen Anlässen so oft beschworen, dass man sie langsam nicht mehr ernst nehmen kann. Vor zwei Monaten sogar direkt vor dem Denkmal, am 8. April, dem Welt-Roma-Tag. Bundespräsident Joachim Gauck war da, Berlins Bürgermeister Michael Müller, die Grüne Claudia Roth. Sie alle zeigten ihre „Solidarität mit den Sinti und Roma“. Im gemeinsamen Aufruf wird auch die „Gewährung von Schutz für aus ihrer Heimat geflohene Roma“ gefordert.

Es waren schöne Bilder für die Tagesschau. Und so nötig solche Zeichen auch sind, es fühlte sich komisch an. Schließlich saßen hier Politiker, die entweder selbst oder deren Parteien jene Gesetze zu „sicheren Herkunftsländern“ verabschiedet haben, die der Grund dafür sind, dass die Schutzsuche von Roma nach einer dreiminütigen Anhörung als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt und in der politischen Debatte pauschal als „Asylmissbrauch“ abgewertet wird. Sehr häufig handelt es sich bei den nach Deutschland geflohenen Roma um die Nachkommen der Opfer des Holocausts, mit dessen Aufarbeitung Deutschland doch angeblich so verantwortungsvoll umgeht.

„Seit 1999 ist mein Leben die Hölle“

Um die vor zwei Monaten verkündete Solidarität einzufordern, sind von der Abschiebung bedrohten Roma aus Hamburg und Kiel nun nach Berlin gekommen. Zum Beispiel Abdullah. „Seit 1999 ist mein Leben die Hölle“, sagt er. Mehr als hundert Häuser von Roma seien in seinem Dorf im Kosovo niedergebrannt worden. Seitdem ist er mit seiner Frau auf der Flucht, mittlerweile hat er auch eine 13-jährige Tochter. Zuerst gingen er und seine Frau nach Mazedonien, dann nach Serbien. Es war überall das Gleiche: Seine Frau leidet an Epilepsie. Wenn sie abends einen Anfall hat, trauen sie sich aus Angst vor Übergriffen nicht aus dem Haus.

Zurück im Kosovo haben Kosovo-Albaner seine Frau zusammengeschlagen. Da war sie im siebten Monat schwanger und verlor ihr Kind. Die Familie ging nach Schweden, lebte dort vier Jahre – bis die Abschiebung drohte. Dann weiter nach Deutschland. Zwei Jahre lebten sie in Kiel.

Als die Polizei sie im Januar holen und in den Flieger setzen wollte, waren sie nicht zu Hause. Seitdem lebt die Familie in der Illegalität. „Mein Leben ist vorbei“, sagt Abdullah. „Wenn sie mich in den Kosovo abschieben, bringen sie mich dort um.“

Oder Anka aus Belgrad. Sie berichtet von Skinheads, die ihre Kinder auf dem Weg zur Schule mit dem Auto angefahren und der Tochter den Arm gebrochen hätten. Die Familie floh nach Frankreich und wurde dann in den Kosovo abgeschoben – weil Ankas Mann aus dem Kosovo kam. Kurz nach der Ankunft haben Kosovo-Albaner ihren Sohn zusammengeschlagen und gefesselt. Er musste zusehen, wie seine Schwester vergewaltigt wurde. Danach floh die Familie nach Deutschland. Auch sie sollte abgeschoben werden und ist untergetaucht.

Man muss nicht bis zum Nationalsozialismus zurück, wenn man über die historische Verantwortung Deutschlands spricht. Es reichen das Jahr 1999 und der Kosovo-Krieg, in dem Minderheiten wie Roma zwischen die Fronten von Serben und Kosovo-Albanern gerieten und Deutschland und die NATO die Augen vor den Pogromen verschlossen. Schätzungen sprechen von 150.000 Roma, die 1999 vertrieben wurden und seitdem einen sicheren Ort suchen. Einige dieser Menschen kommen nun nach Deutschland.

Andere kamen bereits in den Jahren nach dem Kosovo-Krieg und haben lange mit einer Duldung hier gelebt. Doch seit Deutschland 2011 ein Rücknahmeabkommen mit der Republik Kosovo abschloss, sind 12.000 Roma von der Abschiebung bedroht. Es sind Familien mit Kindern, die hier seit über zehn Jahren zur Schule gehen und noch nie in ihrem „Herkunftsland“ waren. Jeden Tag kann es passieren: dass sie am frühen Morgen aus den Betten geholt und zum Sammelflieger eskortiert werden.

In der Bundesrepublik ging die Verfolgung weiter

Einzelne Fälle, die über die Flüchtlingsräte eine gewisse Öffentlichkeit erreichen, führen zu kurzer Empörung. Doch im Großen und Ganzen scheint sich die Gesellschaft damit abgefunden zu haben, dass Roma und andere Minderheiten aus den Westbalkan-Staaten die Ersten waren, deren Suche nach Schutz im vergangenen Sommer durch die Begriffe „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asylmissbrauch“ ein abruptes Ende nahm. Zu tief sitzen die Bilder, die sich die Mehrheitsgesellschaft gemacht hat. Wenn die Uni Leipzig ihre „Mitte-Studien“ vorstellt, sind Sinti und Roma immer die am stärksten abgewertete Minderheit: 50 bis 60 Prozent der Befragten haben „Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“.

Diese Einstellungen sind nicht zu verstehen, ohne die bundesrepublikanische Kontinuität des Rassismus gegen Sinti und Roma: Anders als Juden seien Sinti und Roma nicht aus rassistischen Gründen verfolgt worden, lautete die herrschende Meinung bis ins Jahr 1982 – als die Bundesregierung den Völkermord offiziell anerkannt hat –, sondern wegen ihrer „asozialen und kriminellen Haltung“.

Nach dem Krieg waren Beamte der einstigen nationalsozialistischen „Dienststelle für Zigeunerfragen“ sogar Gutachter über Entschädigungsforderungen von Sinti und Roma. Und bis in das Jahr 1970 hat die bayerische Kriminalpolizei die Katalogisierung von Sinti und Roma in „Landfahrerkarteien“ fortgeführt – und übernahm dabei teils die KZ-Nummern der Überlebenden.

Erst zehn Jahre später erkämpfte sich die neue Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma das Recht auf Akteneinsicht, als eine Gruppe Protestierender um Romani Rose auf dem Gelände des KZ Dachau in den Hungerstreik trat. Noch einmal zehn Jahre später nutzten Roma, die aus dem zerfallenden Ostblock und vor den Jugoslawienkriegen nach Deutschland geflohen waren, das gleiche Mittel. Mit Besetzungen von KZ-Gedenkstätten in Dachau oder Hamburg-Neuengamme pochten sie auf ihr Bleiberecht.

Letzte Hoffnung: Die “historische Verantwortung” einfordern

Solche Aktionen, der Verweis auf die anhaltende Geschichte der Diskriminierung, sind immer die letzte Option gewesen, sich Gehör zu verschaffen. So scheint es auch dieses Mal. All die persönlichen Erfahrungen, all die Berichte der EU-Kommission, der Vereinten Nationen, der Menschenrechtsorganisationen blieben ungehört, als die jüngsten Asylrechtsverschärfungen beschlossen wurden.

Die Berichte beschreiben die Lage von Roma in den als „sicher“ erklärten Ländern als Rundum-Diskriminierung: Roma leben meist in Slums an den Stadträndern, haben keinen Zugang zu Trinkwasser, Strom, Bildung und Gesundheitsversorgung. In Serbien liegt die Kindersterblichkeit vier Mal höher, die Lebenserwartung von Frauen 25 Jahre niedriger als im Rest der Bevölkerung. Immer wieder werden sie Opfer von rassistischen Übergriffen.

Wie Abdullah, Anka und die anderen, die mit der Denkmalbesetzung noch einmal auf die Kluft zwischen Worten und der Wirklichkeit verweisen. Wahrscheinlich ist es die historische Verantwortung, an die die unterstützenden Organisationen nun vermehrt appellieren wollen – für eine Art Kontingentlösung für Roma, ähnlich zu der für Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, auf die man sich vor 25 Jahren verständigte. Die Gruppe hat sich jedenfalls darauf eingestellt, für diese Forderung lange in Berlin zu bleiben und den Protest der Geflüchteten in der Hauptstadt fortzuschreiben: „Die Leute vom Oranienplatz waren zwei Jahre dort. Wir bleiben zehn.“

 

(Erschienen in der Freitag 24/16 / Foto: Denkmal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma, mini_malist/flickr)

  • Seite der Kampagne “alle bleiben!” mit aktuellen Infos und Recherchen zur Lage von abgeschobenen Roma und Romnija in den “sicheren Herkunftsländern”
  • Zum Hören: Radio-Feature über die Folgen der jüngsten Asylrechtsverschärfungen, die Besetzung des Hamburger Michels durch die Gruppe Romano Jekipe, die nun auch in Berlin ist – und mit Einblicken in die Geschichte des Rassismus gegen Sinti und Roma in Deutschland sowie der Bürgerrechtsbewegung
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