In den Neunzigern noch Punk werden zu wollen, hat keinen Spaß gemacht. Vom Versuch, verkrustete bürgerliche Identitäten zu zersprengen, war nur die Totalverweigerung geblieben, die mit permanentem Dosenbiertrinken demonstriert werden musste. Verschiedenfarbige Schnürsenkel dienten der Kultivierung der eigenen Persönlichkeit: gegen Nazis (rot), gegen Bullen (grün), gegen die Kirche (lila) und eben für Alkohol (blau). Die konnten beliebig kombiniert werden, aber weiter aus dem Fenster lehnen sollte man sich nicht. Denn im Zweifel war so ziemlich alles andere ein Verrat an der eigenen Sache, und wer den äußerte, wurde schnell verdächtigt, ein „Pseudo“ zu sein. Und „Pseudos“ waren fast genauso schlimm wie Nazis.
Die Lieder von Slime gehörten dabei zur Grundausbildung. Und selbst nach zwei Reunions und 30-jähriger Bandgeschichte gibt die Band heute noch immer die breitbeinige Rockerpose und verweigert sich konsequent jeder Weiterentwicklung. Slime sind sich selbst treu geblieben und verkörpern damit die bürgerlichsten aller Werte: Ehrlichkeit, Authentizität.
Wie Punk spießig wurde, kann man jetzt aus einem Buch herauslesen, das der 1979 geborene Schweizer Journalist Daniel Ryser geschrieben hat. Ryser hat bereits ein Buch über die Hooligan-Szene in Zürich geschrieben und eines über die Schweizer Elektro-Band Yello. Im Fall von Slime kommen Musik und Krawall nun zusammen. Ryser hat Slime im vergangenen Jahr begleitet, als sie nach 15 Jahren Pause und der zweiten Wiedervereinigung mit neuer CD auf Tour gingen. Die Bandgeschichte rekonstruiert er anhand von Gesprächen mit ehemaligen Weggefährten und Freunden, von Campino bis zu den Razors und Rocko Schamoni.
„What can a poor boy do?”
Das Buch heißt nach Slimes bekanntestem Lied Deutschland muss sterben. Neben „Wir wollen keine Bullenschweine“ ist es wohl der Song, der am meisten zum Ruf der „radikalsten“ Punkband beigetragen hat, die den Soundtrack zur Demo und zur Straßenschlacht schrieb. Ryser erzählt ihre Geschichte von Anfang an: Gegründet 1979 von Michael „Elf“ Mayer (Gitarre), Sven „Eddie“ Räther (Bass) und Peter „Ball“ Wodok (Schlagzeug) in Hamburg. Schnell fanden sie mit Dirk „Dicken“ Jora einen Sänger, dessen Stimme das Pathos der Straße in sich trug und eine Wucht, die auch Bürgerkinder packte.
Dirk ist mit Schlagermusik groß geworden. Der Vater Matrose, die Mutter Hausfrau, bei Konflikten waren sie „im Zweifel für die Obrigkeit“ und für Dirk damit Teil jener stummen Masse, die schon die NS-Diktatur ermöglicht hatte. Und wer wie Dirk die Polizei im Deutschen Herbst und auf Anti-AKW-Demos erlebte, glaubte schnell daran, dass sich Geschichte wiederholen kann. Dirk radikalisierte sich in der autonomen Hausbesetzerszene, tätowierte sich eine Songzeile aus Street Fighting Man von den Rolling Stones: „What can a poor boy do … (except to sing for a rock’n’roll band)?“ und sang mit seinem Fokuhila bald darauf die bekanntesten Protestzeilen seit den Ton Steine Scherben.
„Deutschland muss sterben“ zum Beispiel, die Umkehrung eines Spruchs am Denkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs am Hamburger Dammtorbahnhof: „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“. Oder eben „Bullenschweine“: „Der Faschismus hier in diesem Land / Der nimmt allmählich überhand / Wir müssen was dagegen tun / Sonst lassen uns die Bullen nicht mehr in Ruh’.“ Dirk verstand sich dabei mehr als Antreiber denn als Sänger. Es kam vor, dass er das Konzert unterbrach und dazu aufrief, jeden Bullen vor der Tür „plattzumachen“. Und so geschah es dann. Die erste Platte Slime I erschien Anfang 1981 mit einer Auflage von 5.000 Stück und wurde in kurzer Zeit fünf Mal à 5.000 Stück nachgepresst. Dass „Bullenschweine“ dann wegen Volksverhetzung überpiepst werden musste, war nur noch mehr Werbung.
Der Sänger als Antreiber
Endlich war da eine Band, die es ernst meinte. Es dauerte nicht lange, da wurde es immer bierernster, immer gewalttätiger. Auf den Konzerten wurde der Pogo mit immer höheren Ellenbogen und Stiefeltritten getanzt, die Stimmung wurde immer gewalttätiger, auch weil die Nazis mittlerweile die Punkkonzerte für sich entdeckt hatten. Und die kamen nicht aus dem Nichts. Auch wenn Ryser nicht vorhat, am Mythos Slime zu rütteln, kommen bei ihm auch kritische Stimmen zu Wort. Wie Ted Gaier, Mitbegründer der Goldenen Zitronen, der schon damals sagte, dass diese Wut aus dem Bauch, diese ungebrochene Emotionalität, auch aus der ganz anderen politischen Richtung kommen könne.
Doch der Hamburger Punk kannte nichts Verspieltes, nichts Androgynes, die aufkommende Hamburger Schule war für ihn nichts als „Kunstkacke“. Bands, die in der Hansestadt mit mehr als drei Akkorden auftraten, wurden schon einmal von der Bühne geprügelt. Und als Joe Strummer mit The Clash beim Majorlabel CBS unterzeichnete, klaute ihm Elf beim Konzert das Mikrofon – Strummer hatte die Punk-Ideale verkauft, so ein Verräter hatte hier nichts mehr zu sagen.
Kurze Zeit später war Slime mit den gleichen Vorwürfen konfrontiert. Als der Eintritt auf einer Tour acht Mark kostete, wurden sie nach dem Konzert mit Knüppeln verjagt. Das Album Alle gegen alle (1983) war vor allem ein Kommentar zur eigenen Szene, die sich selbst mit Verratsvorwürfen überzog und deren größter Feind die Hippies geworden waren. Der neue Schlagzeuger Stephan Mahler und Bassist Eddy wollten das nicht mehr mitmachen. Mahler hatte das Gefühl, wenn Dirk auf der Bühne sagen würde „Leute, geht raus und tötet ein paar Bullen“, dann würden die Leute das auch machen. Die Band löste sich auf.
„Dirk war so … deutsch!“
Knapp 10 Jahre später sollte sich diese Geschichte wiederholen. Slime versuchten es noch einmal, nachdem Deutschland wiedervereinigt war. Hetzjagden und Mordanschläge auf Flüchtlingswohnheime waren an der Tagesordnung, da brauchte es wieder klare Ansagen. Die CD Schweinherbst verkaufte sich in der ersten Woche allein 40.000 Mal – und die Kids auf den Konzerten fragten die Band, wie viele Bullen sie heute schon verprügelt hätten. Das letzte Konzert in der Stammbesetzung spielten sie dann im November 1994 in Bonn, für die WDR-Reihe Rockpalast. Mahler erinnert sich im Gespräch mit Ryser: „Das war für mich das Schlimmste. Die Lightshow kombiniert mit Dirks Ansagen – widerlich. Dirk war so… deutsch!“ Slime hatten gegen Nazis und im Häuserkampf erfahren, dass das bessere Argument nicht immer ausreicht. Sie haben es aber nie verstanden, ihre Ablehnung anders als in Parolen auszumalen. Mit ihrem identitätsstiftenden Anspruch waren sie zum bösen Bruder der Bürgerlichkeit geworden.
Heute ist Dirk 53 Jahre alt und chronisch pleite. Er lebt bei Hamburg im Landhäuschen seiner Eltern, spaziert im Wald, geht schwimmen, in die Sauna und kommt nur alle zwei Wochen zu den Heimspielen des FC St. Pauli in die Stadt. Die einzige Identifikationsfigur, die er dort noch hat, ist Fabian Boll. Auch der ist sich treu geblieben, schon seit über zehn Jahren beim Verein. Und arbeitet halbtags als Kriminaloberkommissar. Mit dieser Gegenüberstellung endet Rysers Buch. Auf der Lesung vergangenen Monat in Berlin gab es im Anschluss noch ein paar Akustiklieder der Band zu hören. Das Licht wird rötlich gedimmt, die Gitarre hat einen Country-Einschlag. Doch von der Wucht in seiner Stimme hat Dirk nichts verloren. „Authentiztität – wieder mal richtig ausgesprochen“, sagt er bei einer Ansage, „wo bleibt der Applaus?“ Kurz darauf gehen die Fäuste wieder in den Himmel.
(Foto: dier madrid, CC BY-NC 2.0 / zuerst erschienen in der Freitag vom 29.5.2013)
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